Der einsame König
„Kinder, kommt bitte her!“, ruft Mutter, „Könnt ihr mir einen Gefallen tun? Wir haben Großmutters Krippe noch nicht aufgestellt. Das sollten wir noch machen, bevor unser Besuch kommt.“ Widerwillig aber doch reißen sich Jochen und Anna von ihren Handys los und begeben sich in den Keller. Nach einiger Zeit kommen die beiden wieder hoch und stellen die Krippenlandschaft mit dem Stall auf die Kommode. „Die Figuren könnt ihr aufstellen, wie es euch gefällt“, meint Mutter und eilt zu den Keksen in der Küche, die bereits einen weihnachtlichen Duft im Haus verbreiten.
Als sie wieder ins Wohnzimmer kommt, fällt ihr vor Schreck fast der Nudelwalker aus der Hand. Im Stall zu Betlehem stehen Maria und Josef einsam mit dem Jesuskind. Keine Hirten, keine Engel, keine Schafe. Lediglich ein König kniet verloren vor der Krippe. „Was soll das? Wo sind die anderen?“ Anna und Jochen lächeln geheimnisvoll, als sie antworten. „Die Hirten wären sehr gerne kommen, aber leider war einer von ihnen bei den Massentests coronapositiv. Jetzt befinden sich alle in Quarantäne.“ Mutter runzelt die Stirn. Schnell fährt Anna fort: „Die heiligen drei Königen hatten großes Pech. Kaspar konnte wegen der Reisebeschränkungen sein Land nicht verlassen. Melchior ist zwar über die Grenze gekommen, aber er ist auf dem Neuschnee ausgerutscht und hat sich etliche Glieder gebrochen!“ Und Jochen ergänzt naseweis: „Balthasar hat es nur deshalb bis hierher geschafft, weil er sein gesamtes Gold gegen Corona-Impfungen getauscht und damit die Grenzbeamten gestochen hat!“ „Bestochen!“ zischt Anna ihrem Bruder zu. Mutter ist sichtlich irritiert. „Aber die Engel…?“ „… konnten leider auch nicht kommen.“ Anna nimmt ihrer Mutter das Wort aus dem Mund. „Die müssen die Menschen auf den Intensivstationen beschützen!“ „Aha.“ Mutter ist blass geworden, wagt aber doch noch eine Frage: „Warum sind dann Maria, Josef und Jesus noch hier?“ „Wären sie ja nicht, wenn im Krankenhaus noch ein Platz frei gewesen wäre.“ erklärt Jochen. „Aber immerhin ist im Stall gut gelüftet, und Jesus ist gut eingewickelt, damit er sich nicht erkältet.“ Als Anna den verzweifelten Blick ihrer Mutter sieht, meint sie: „Ach Mama, Jesus ist doch trotzdem geboren und darum geht es ja schließlich.“ „Und“, triumpiert Jochen, „die Ausgangsbeschränkungen mit der Einpersonenregel haben wir auch eingehalten.“
Beim Zusammenkehren der Scherben auf der Kellerstiege flüstert Jochen seiner Schwester ein leises „Danke, dass du mich nicht verraten hast!“ zu. „Ist doch Ehrensache!“, antwortet Anna, „Schließlich ist Weihnachten.“ (Co E&T)